Rigaer Straße brennt – 60 Polizisten verletzt

Verfasst von Victoria Müller | 17.06.2021 | 17:14

KURZ ZUM KONTEXT

Heute wurde eine Brandschutzprüfung in einem Wohnprojekt in der Rigaer Straße 94 (besetzt seit 1990! Damals leerstehend, zuletzt 2014 verkauft) durchgeführt. 

Die Sorge der Anwohner:innen: Räumung wegen angeblicher Mängel. Wäre nicht das erste Mal. Viele Räume für alternatives Leben und/oder besetzte Häuser sind der Gentrifikation zum Opfer gefallen.

Ich bin Anwohnerin und stand gestern quasi in der Barrikade. Ich erlaube mir daher mal eine Bewertung der Situation. Viele Nachrichtenvertreter:innen haben ihre Meldungen nämlich offenbar vom Polizeimelder abgeschrieben. 

1,5 Stunden brannten die Barrikaden in der Rigaer Straße, während die Polizei völlig unbeteiligt daneben stand. 

Das Ganze war extrem überschaubar, kein Ausnahmezustand. Es sind einige Steine und andere Geschosse geflogen. 

Eine Polizei-„Wanne“ hatte eine Delle im vorderen Bereich. In der ganzen Zeit (11-14 Uhr) habe ich einen (!) Krankenwagen gesehen. Keine Spur von verletzten Polizeibeamt:innen. Vielleicht sollte der Terminus „verletzt“ seitens der Polizei näher erläutert werden oder einfach mal belegt werden, was behauptet wird! Auch ist die Quote bei 200 Polizist:innen 60 Verletzte zu verzeichnen, extrem hoch?!

Erst als das Feuer einer Barrikade auf ein in der Nähe stehendes Auto überging, rückte ein Wasserwerfer und ein Räumpanzer an, um den Brand zu löschen und die Reste von der Straße zu beseitigen. 

Ja, es gab einen Panzer. Es gab alles, was das deutsche Polizeiwesen an Equipment zu bieten hat. 

Binnen kürzester Zeit war das Spektakel beendet. Was blieb: Gute Bilder für Twitter und die Presse, die den vermeintlichen Krawall dankend druckten. SKANDAL! Die Linken machen Krawall. 

„Berliner Chaostag“ oder „Endkampf-Fantasien radikaler Linker“ waren nur zwei der Überschriften. Wer ist schuld? Laut Twitter natürlich Rot-Grün!Doch hat mal jemand gefragt, welche Verletzungen es gab oder was hier eigentlich die Problematik ist? Nein! 

Es wurde lediglich behauptet, dass die bösen Linksextremen die ganze Nachbarschaft in Angst und Schrecken versetzt haben und damit wurde letztlich der Polizeisprech in den Medien reproduziert.

Die Situation gestern zwischen 11-14 Uhr sah im Kiez wie folgt aus: 

Einige Schaulustige haben sich das Ganze aus nächster Nähe angesehen, sind durch die brennenden Barrikaden gelaufen. Keine Anwohner:innen verletzt - komisch. Die Cafés im Umkreis waren gut besucht, Menschen saßen draußen und es ist einfach nichts passiert. 

Der Nordkiez in Friedrichshain ist ein Paradebeispiel für Gentrifikation. Einst Arbeiterbezirk, dann Teil Ostberlins, wurden Anfang der 1990er Jahre nach der Wende jede Menge extrem marode und leer stehende Häuser besetzt. 

Die Hausbesetzungen in Kreuzberg haben etliche Prachtbauten erhalten, die heute Wohnraum für jene bieten, die es sich leisten können. 

Mal ein paar Fakten zum Berliner Wohnungsmarkt:

85% der Menschen in der Hauptstadt leben in Mietwohnungen, im Jahr 2017 befürchteten bereits 47% der Mieter:innen sich ihre Wohnung in den nächsten zwei Jahren nicht mehr leisten zu können. Schätzungsweise haben 30.000 Menschen in Berlin keine Wohnung, während die Mieten in den letzten fünf Jahren um 44 Prozent gestiegen sind. 

Die Leerstandsquote liegt inzwischen nur noch bei 0,8% und laut einer Studie des Technologieunternehmens Realxdata ging vor allem in Berlin die Zahl für bezahlbaren Wohnraum zurück. Das ist kein lokales Problem, aber es zeigt exemplarisch, woher der Unmut kommt. Es geht um Verdrängung. Es ist ein Fakt, dass es in Berlin immer weniger Freiräume gibt. Immer weniger (bezahlbaren) Wohnraum. Kulturräume schließen, Clubs werden abgerissen, Hochhäuser werden gebaut. Wir können hier dabei zusehen!

Die Wut und Sorge der Bewohner:innen der Rigaer Straße 94 kann ich daher nachvollziehen und möchte an dieser Stelle meine Solidarität bekunden.

Außerdem ist an diesem Beitrag die Bitte gekoppelt, kritisch zu sein. Wenn große Tageszeitungen die Pressemeldungen der Polizei drucken, ohne diese kritisch zu prüfen, dann ist das schlechter Journalismus!

Es folgt demnächst eine Geschichte der Hausbesetzerszene. Denn dieser hat das „hippe Berlin“ mehr zu verdanken als man denken mag!

Verfasst von Victoria Müller

Ich habe Germanistik und Anglistik an der TU Darmstadt studiert und mache aktuell den Master in Wissenschafts- und Technikgeschichte an der TU Berlin. Neben dem Studium arbeite ich als (Radio-)Moderatorin, schreibe aktuell mein zweites Buch und publiziere zu Themen, die mich bewegen.

 

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