„Was man nicht sieht, ist auch nicht da!

Verfasst von Maria | 14. Juli 2021 | 15:00

Hi, ich bin Maria. Ihr konntet in den letzten Wochen schon ein bisschen was von mir lesen und in diesem Beitrag geht es um ein Thema, dass mich unmittelbar betrifft. Ich schreibe über unsichtbare Behinderungen. Stellt euch doch mal selbst die Frage, woran ihr bei dem Begriff „Mensch mit Behinderung“ als Erstes denkt. Die meisten haben sofort das Bild einer Person in einem Rollstuhl oder eines Menschen mit einem Blindenstock im Kopf. Die wenigsten denken aber an chronische Herzleiden, Taubheit oder auch psychische Erkrankungen, die zu einer Beeinträchtigung im Alltag führen können. 

Ich bin einseitig taub und habe wegen einer Herzmuskelentzündung eine künstliche Herzklappe bekommen. Beide Einschränkungen sieht man mir auf den ersten Blick nicht an. Durch die einseitige Taubheit und der Tatsache, dass unser Gleichgewichtssinn im Ohr liegt, schwanke ich beim Gehen abhängig von meiner Tagesform, manchmal mehr und manchmal weniger. Aufgrund der Herzklappe ist meine Ausdauer etwas beeinträchtigt, was sich zum Beispiel beim Treppensteigen bemerkbar macht. Die Behinderung sieht man nicht, die Auswirkungen schon.

EIN PAAR ZAHLEN ZUM EINSTIEG

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes leben in Deutschland im Jahr 2019 ca. 7,9 Millionen Menschen mit einer Behinderung. (2) 4,6 Millionen Menschen sind von einer körperlichen Behinderung betroffen und 3,3 Millionen haben eine zerebrale Störung, geistige und/oder seelische Behinderungen oder sind von sonstigen Beeinträchtigungen betroffen. (2) Wichtig zu wissen ist, dass lediglich 257.541 der ca. 7,9 Millionen Menschen, die von einer Behinderung betroffen sind, diese auch von Geburt an haben. (2) Den Großteil der Betroffenen ereilt eine Behinderung erst im Laufe ihres Lebens durch eine Krankheit, einen Unfall oder anerkannte Kriegs-, Wehr- oder Zivildienstschädigungen. (2)

Menschen, die eine Behinderung erst im Laufe ihres Lebens erfahren, lernen damit einen ganz anderen Umgang. Sie kennen ein Leben ohne Einschränkungen und für sie verändert sich alles. Leider sind Menschen mit chronischen Krankheiten und allen Formen von Behinderungen von der Gesellschaft immer noch ausgeschlossen und ihre Beeinträchtigungen tabuisiert. Besonders nach dem Bekanntwerden einer nicht sichtbaren Behinderung oder einer chronischen Krankheit wie Panikattacken, Depressionen, Herzerkrankungen, Autismus oder auch Hörbehinderungen, um nur ein paar zu nennen, folgt oft zum Teil verständnisloses Staunen, übertriebenes Mitleid oder auch Ablehnung. (1) In den Köpfen herrschen nämlich immer noch Vorurteile, die eine behinderte Person als nicht „vollwertig“ marginalisieren und das, obwohl es bis zur Erwähnung der nicht sichtbaren Behinderung keinen Zweifel an der körperlichen und geistigen Gesundheit der Person gab. Plötzlich wird man anders behandelt und vielleicht sogar herabgesetzt.

VORURTEILE GEGENÜBER PERSONEN MIT NICHT SICHTBAREN BEHINDERUNGEN

Als Mensch mit einer unsichtbaren Behinderung werde ich oft mit immer denselben Vorurteilen konfrontiert. Erst kürzlich habe ich einen Fahrstuhl auf einem Bahnhof genutzt. Ich war bereits den ganzen Tag unterwegs und merkte, dass ich durch das fehlende Gleichgewicht und die eingeschränkte Ausdauer nicht die unzähligen Treppen nehmen wollte und konnte. Ich stieg in den Fahrstuhl, ein älterer Herr nach mir passte daraufhin leider nicht mehr mit rein. Eine ältere Dame, die mit mir im Fahrstuhl stand, äußerte sich wie folgt: „Immer diese jungen faulen Menschen. Der Fahrstuhl ist für Leute, die den wirklich brauchen!“ Ich war total perplex und wusste gar nicht, was ich entgegnen sollte. Ich stieg also aus, ohne etwas zu sagen. Das war leider nicht das erste Mal, dass mir sowas passiert ist. Ich wurde schon häufig schräg angeguckt und mein gelegentlich wankender Gang wurde des Öfteren ungefragt kommentiert, in dem mir unterstellt wurde, ich sei betrunken. Es gab auch Menschen, die deshalb nicht mit mir in der Öffentlichkeit gesehen werden wollten, weil sie sich unwohl dabei fühlten, wenn ich Probleme mit dem Gleichgewicht habe. 

Ich möchte noch ein weiteres Beispiel geben, in dem ich mir manchmal wirklich etwas mehr Verständnis und weniger Vorurteile wünschen würde: Die Kommunikation in Geschäften, in denen es zu Verkaufsdialogen kommt oder in Arztpraxen sind für mich aufgrund der Maskenpflicht aktuell sehr schwierig. Ich kann nicht erkennen, wann jemand spricht, kann gegebenenfalls nicht von den Lippen ablesen, wenn ich etwas nicht verstehe. Oft reagieren Verkäufer:innen oder das Praxispersonal genervt, rollen sogar mit den Augen. Wenn ich dann sage, dass ich sie nicht verstehen kann, weil ich einseitig taub bin, schlägt die Stimmung um. Ich habe das Gefühl, sie fühlen sich ertappt und entschuldigen sich mehrfach und überschwänglich, behandeln mich dann jedoch oft so, als würde ich geistig nicht verstehen was sie meinen statt akustisch. Ich frage mich, warum man einem Menschen nicht einfach von Beginn an mit Respekt gegenüber treten kann und jede:n einfach gleich behandelt beziehungsweise auf spezielle Bedürfnisse eingeht, wenn man darauf hingewiesen wird. Bei mir würde es in diesem Fall schlicht und ergreifend reichen, lauter zu sprechen.

Mit solchen Vorurteilen sehen sich Menschen mit einer unsichtbaren Behinderung aber leider häufig konfrontiert, getreu dem Motto: „Was man nicht sieht, das ist auch nicht da.“

UNSICHTBARE BARRIEREFREIHEIT FÜR UNSICHTBARE BEHINDERUNGEN

In Deutschland gibt es ein Behindertengleichstellungsgesetz. Der vierte Paragraf dieses Gesetz definiert Barrierefreiheit und besagt: 

Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig.“ (3) 

Barrierefreiheit bedeutet also, jede:r sollte die Möglichkeit bekommen uneingeschränkt sein:ihr Leben führen zu können, egal ob die Person eine Behinderung hat oder nicht. Dennoch werden Menschen mit unsichtbaren Behinderungen, die Anlagen für Behinderte nutzen, häufig mit Blicken und Kommentaren abgestraft. Geht beispielsweise die Person, die unter der chronischen Darmkrankheit Colitis Ulcerosa leidet, mit einem EU-Schlüssel auf eine Behindertentoilette, geschieht das meist nicht ohne wertende Blicke; nicht sichtbare Behinderungen erfordern allerdings ebenfalls einen Bedarf an Barrierefreiheit. Wir brauchen zwar keine Rampen oder Ähnliches, aber auch wenn man es nicht sieht, sind sind wir trotzdem auf Hilfen im Alltag angewiesen. Leider wird daran selten gedacht. Geht es um Barrierefreiheit, so fallen als Erstes Worte wie barrierefreie Bauten oder Außenanlagen.(1) Vergessen wird dabei, dass Menschen, die stark sehbeeinträchtigt sind, stärkere Kontraste in ihre Umwelt brauchen, Menschen mit Angststörungen, brauchen mehr Platz in der Straßenbahn (1) oder Hörgeschädigte an Bahnhöfen Anzeigen bei unverständlichen Ansagen. Auch das bedeutet Barrierefreiheit. Es wird vergessen, dass sich Menschen mit unsichtbaren Behinderungen sich nicht der Umwelt anpassen müssen, sondern die Umwelt muss so ausgestattet sein, dass sie gleichberechtigt am Leben teilhaben können.(1) So wie es der Paragraf besagt, wäre es wünschenswert. Umgesetzt wird dies erfahrungsgemäß leider nicht in dem Maße, wie es nötig wäre.

WIE SOLLTE DIE ZUKUNFT AUSSEHEN?

Für die Zukunft ist es vor allem wichtig, dass die Gesellschaft ihre Berührungsangst gegenüber Menschen mit Behinderung verliert und den Glauben „Was ich nicht sehe, gibt es nicht“ ablegt. Hat eine Person ihre nicht sichtbare Behinderung öffentlich gemacht, sollte sich nicht nur auf mögliche „Defizite“ konzentriert werden. Besonders Personen, die aufgrund ihrer Beeinträchtigungen eventuell Therapieerfahrungen haben, besitzen häufig ein hohes soziales Potential und umfangreiche Soft Skills und Kompetenzen in Bereichen wie Problemlösungsstrategien. 

Außerdem sollten nicht sichtbare Behinderungen stärker in die Pläne für Barrierefreiheit integriert werden. Mir persönlich würde es sehr helfen, wenn Ansagen auf Bahnhöfen nicht nur aus einer Richtung kommen würden und lauter wären, denn so wie es ist, kann ich sie oft gar nicht oder nur schwer verstehen. Es wäre auch hilfreich, wenn Gehwege in schmalen Straßen etwas breiter wären, sodass ich nicht ins Wanken gerate und auch auf Baumwurzeln, die auf dem Bürgersteig zu Stolperfallen mit hohem Verletzungspotential für mich werden, könnte ich gut verzichten. Und das sind nur meine Wünsche. Jede Person mit einer bestimmte Beeinträchtigung hat einen anderen Bedarf den Alltag betreffend.

Ich habe kein Problem damit offen mit meiner Beeinträchtigung umzugehen, übertriebenes Mitleid ist jedoch vermutlich nicht nur bei mir unangebracht. Menschen mit einer Behinderung haben gelernt, damit zu leben und entgegen der Hoffnung, dass sich die Umwelt an sie anpasst, haben sie sich zumeist angepasst. Denn leider ist die Gesellschaft oftmals noch nicht so weit, Menschen mit einer Beeinträchtigung gleichzustellen. Das muss sich ändern. Erst, wenn sich der Gedanke der gleichberechtigten Teilhabe ALLER Menschen in der Gesellschaft in den Köpfen manifestiert hat und jede:r mitgedacht wird, können wir wirklich von einer inklusiven Welt sprechen.

Mit besten Grüßen, Maria

Verfasst von Maria

Ich habe Publizistik- und Kommunikationswissenschaft sowie Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin studiert. Jetzt schreibe ich gern zu den verschiedensten Themen, die mich bewegen, interessieren und zu Diskussionen anregen.

 

Quellen

(1): Niedersächsisches Bundesamt für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung. (25. Januar 2019). Landesbehindertenbeauftragte zum Thema „Menschen mit nicht sichtbaren Behinderungen“ - Inklusion beginnt im Kopf! Abgerufen am Juli 2021 von https://www.ms.niedersachsen.de/startseite/service_kontakt/presseinformationen/landesbehindertenbeauftragte-zum-thema-menschen-mit-nicht-sichtbaren-behinderungen-173282.html

(2):  Statistisches Bundesamt. (24. Juni 2020). Behinderte Menschen - Schwerbehinderte Menschen am Jahresende. Abgerufen im Juli 2021 von https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Behinderte-Menschen/Tabellen/geschlecht-behinderung.html;jsessionid=0965F06CB7EAC825249D9B422DD65C4A.live711

(3): Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz sowie des Bundesamts für Justiz (zuletzt geändert 2. Juni 2021). Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz - BGG). Abgerufen im Juli 2021 von https://www.gesetze-im-internet.de/bgg/BGG.pdf 


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